Deutschland – Blutige Kriege & Goldene Jahre

„Deutschland – Blutige Kriege und Goldene Jahre“ ist ein Quellenband für das Rollenspielsystem „Cthulhu“ über Deutschland in den 1920ern. Der deutschsprachige Leser wird diese Epoche sicherlich gut kennen. Was kann uns der „Cthulhu“-Quellenband lehren, was uns unsere Schulweisheit noch nicht gelehrt hat?

von Morgath

Von den Regelwerken abgesehen erhalten nur wenig Publikationen von „Cthulhu“ eine zweite oder gar höhere Auflage. Der Quellenband über Deutschland ist erfreulicherweise eine Ausnahme. Erstmals erschien er im Jahr 2003 als Box. Im Jahr 2011 wurde daraus ein Hardcover gemacht. 2023 erschien er als limitierter und prunkvoller Jubiläumsband. Jetzt kommt er noch einmal als Normalband heraus.

Wie der Titel schon erahnen lässt, wird in dem Buch Deutschland in den 1920ern vorgestellt. Es beginnt mit einer kurzen historischen Zusammenfassung, wobei der Schwerpunkt nicht auf den Fakten liegt; stattdessen bemüht man sich, die Stimmung und den Zeitgeist einzufangen. Ein guter Ansatz für pragmatische Spielleiter.

Ein umfangreiches Kapitel beschäftigt sich mit dem normalen Leben. Hier erfährt man allerhand über die Auswirkungen des Krieges, die Mode, das Benehmen oder die Essgewohnheiten. Hier werden auch das Schulsystem und die Universitäten dargestellt, wobei ich die Abschnitte über Studentenverbindungen besonders interessant fand.

Die nächsten Kapitel beschäftigen sich mit der Wirtschaft, dem Reisen oder der Technik. Der Leser erfährt hier, wie das Alltagsleben eines Arbeiters aussieht, wie lange man mit dem Auto von München nach Berlin brauchte oder was technisch möglich war oder nicht.

Ein weiteres spannendes Kapitel dreht sich um die Kriminalität. Hier werden das Rechtssystem, allen voran die Strafverfolgung, die Möglichkeiten der Gerichtsmedizin aber auch bekannte Rechtsfälle behandelt.

Erst auf Seite 174 widmet sich das Werk den okkulten Dingen. Geisterglauben, die Thule-Gesellschaft oder Esoterik dominieren die nächsten Seiten. Legenden, Kultstätte und einige Abenteuerideen runden das Ganze ab.

Sehr umfangreich sind dann die Spielhilfen, in denen nützliche Information zusammengefasst werden. Hier werden beispielsweise wichtige Persönlichkeiten oder Unternehmen der Epoche vorgestellt. Es finden sich aber auch aber auch Namen- und Preislisten.

Am Ende finden sich mit „Tempus fugit!“, „Gefrorene Angst“ und „Bilderwahn“ noch drei ausgearbeitete Abenteuer, die allesamt als Klassiker gelten und vorliegend durch tolle Handouts einen würdige Bühne erhalten.

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: Der Quellenband bietet einem Rollenspieler deutlich mehr als ein gewöhnliches Geschichtsbuch. Während sich Geschichtsbücher auf die großen politischen oder gesellschaftsbezogenen Ereignisse konzentrieren, befasst sich der Quellenband vor allem mit alltäglichen Dingen. Diese kann der Spielleiter immer wieder in laufende Abenteuer einbauen und damit eine lebendige Kulisse aufbauen.

Die Möglichkeiten hierfür sind schier endlos, denn das Werk ist sehr umfangreich und behandelt zahlreiche Themen. Es eignet sich daher auch perfekt als Nachschlagewerk. Wer etwas über ein bestimmtes Thema, beispielsweise schlagende Verbindungen, wissen will, kann dieses gezielt suchen und nachlesen. Es ist daher etwas verwunderlich, dass ein Glossar fehlt. Das ist aber nicht weiter schlimm. Wer sich ein bisschen mit dem Buch befasst hat, der findet schnell die gesuchten Stellen.

Insgesamt fallen das hohe Fachwissen und die gründliche Recherchearbeit auf. Glaubt man dem Vorwort, dann wurde über zehn Jahre lang Wissen zusammengetragen, ehe das Werk veröffentlicht wurde. Über 30 Autoren haben sich beteiligt und ihr Fachwissen einfließen lassen. Das Endergebnis ist natürlich beeindruckend.

Wenn man Kritik üben möchte, kann man dies nur auf sehr hohem Niveau machen und muss tief in die Materie einsteigen. So werden einige komplexe Themen lückenhaft und/oder zu komprimiert behandelt, sodass man sich als (unkundiger) Spielleiter schwertut, daraus einen praktischen Nutzen zu ziehen.

Ich möchte dies am Beispiel über Studentenverbindungen im Allgemeinen und schlagende Verbindungen im Besonderen veranschaulichen. Zunächst einmal ist es lobenswert, dass dieses Thema Einzug in das Buch erhalten hat, da es in den 1920ern weit verbreitet war, dass Akademiker korporierten waren. Dazu sind Studentenverbindungen, allen voran die schlagenden Verbindungen, eine Erscheinung, die sich so nur im deutschsprachigen Raum finden lässt. Also ein ideales Thema, um den Zeitgeist im damaligen Deutschland zu charakterisieren oder einem Investigator oder NSC einen einprägsamen Hintergrund zu verleihen.

Das Thema wird in insgesamt drei Abschnitten auf etwa eineinhalb Seiten behandelt. Der Autor ist sehr kundig. Sein Wissen geht weit über die bloße Wiedergabe von gewöhnlicher Recherche hinaus. So verwendet er nicht nur das richtige Vokabular, sondern weiß auch mit Detailwissen zu überzeugen. Zielsicher reiht er Fachwissen an Fachwissen. Leider befasst er sich aber mehr mit der gesellschaftspolitischen Bedeutung der Studentenverbindungen, anstatt anschaulich zu zeigen, was den Alltag eines korporierten Studenten ausmachte.

So werden grundlegende Themen wie die Laufbahn in einer Studentenverbindung vom Fuchs/Fux, (aktiver) Bursch, inaktiver Bursch zum Alten Herrn, die besondere Bindung zwischen Leibfuchs und Leibbursch oder das vom Couleur (Band, Mütze und Zipfelbund) geprägte Erscheinungsbild nicht behandelt. Schade, denn das wäre nützliches Wissen gewesen, das einem (unkundigen) Spielleiter geholfen hätte, um einen korporierten Studenten glaubhafter darzustellen zu können.

Wenn es dann doch mal konkreter wird, wie beispielsweise bei der Mensur (der von schlagenden Verbindungen ausgeübte, traditionelle und streng reglementierte Fechtkampf), der immerhin ein eigener Absatz gewidmet wurde, dann schleichen sich Ungenauigkeiten ein, indem die Mensur als „Ehrenduell“ bezeichnet wird (die Mensur ist grundsätzlich kein Duell; siehe den entsprechenden Artikel bei Wikipedia). Zudem sind die Beschreibung der Mensur – trotz ihrer Korrektheit – derart komprimiert, dass nur ein Kundiger sie verstehen kann. Dies mag aber auch an der Thematik liegen. Zumindest kenne ich niemanden, der begriffen hat, was eine Mensur ist, ohne eine solche selbst gesehen zu haben. Die meisten hören nur „Fechten“ und stellen sich dann „etwas Ähnliches wie einen Degenkampf“ vor, da sie schon einmal einen Wettkampf im Sportfechten gesehen haben. Tatsächlich hat die Mensur damit aber wenig gemein.

Um zum Abschluss zu kommen: Das Thema Studentenverbindungen hätte gerne ausführlicher sein können. Dafür hätte ich auch auf die 5 Seiten mit der Übersicht über die deutschen Universitäten verzichtet.

Das Buch erscheint in einem schicken Hardcover. Es ist übersichtlich gegliedert und besteht überwiegend aus einem vierfarbigen Layout. Neben Schwarz und Weiß finden sich noch diverse Braun- und Rottöne. Die Seiten haben damit etwas Pergamentähnliches, wobei die Schrift einen weißen Hintergrund hat und daher stets gut zu lesen ist. Die Bilder sind allesamt in Schwarz-Weiß gehalten, mit braunem Rand. Gelegentlich finden sich grüne Kästen mit Abenteuerideen. Im Anhang wird das noch etwas bunter, denn die Karten sind teilweise farbig. Hinten in einer Lasche findet sich noch eine zeitgemäße Deutschland-Karte. Das ist alles sehr schick.

Fazit: Wer seine Gruppe nach Deutschland führen möchte, dem sei der Quellenband mehr als nur ans Herz gelegt. Bedenkt man zudem die Preisentwicklung von „Cthulhu“-Produkten, dann würde sich die Anschaffung auch als Geldanlage lohnen.

Deutschland – Blutige Kriege & Goldene Jahre
Quellenband
Jan Christoph Steines (Hrsg.)
Pegasus Spiele 2024
ISBN: 978-3-96928-109-3
390 S., Hardcover, deutsch,
Preis: 39,95 EUR

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