Der Astronaut

Ein Mann erwacht allein in einem Raumschiff. Der Rest der Besatzung ist tot. Er weiß nicht, wer er ist oder was er hier macht. Nur langsam kehrt die Erinnerung zurück: Sein Name ist Ryland Grace, er ist auf der Reise ins Tau-Ceti-System und sein Job ist es, die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren …

von Bernd Perplies

Der amerikanische Science-Fiction-Autor Andy Weit ist ein Phänomen. Sein erster Roman, „Der Marsianer“, avancierte 2014 zum weltweiten Bestseller, der sogar von Ridley Scott mit Matt Damon in der Hauptrolle verfilmt wurde – nachdem Weir zuvor 3 Jahre lang keinen Verlag dafür gefunden hatte, wohlgemerkt (man kennt solche „origin stories“ mancher Erfolgsbücher und fragt sich jedes mal wieder, was in der Buchbranche da eigentlich schiefläuft). Weirs einzigartige Erzählweise, harte und sehr sorgfältig recherchierte Wissenschaftsthemen in locker ironischem Plauderton aus der Ich-Perspektive zu präsentieren, dürfte dabei wesentlich zum Erfolg beigetragen haben. Sein Output seither war mit „Artemis“ (2017) und „Der Astronaut“ (2021) eher bescheiden, was erneut nicht zuletzt an der umfangreichen Recherchearbeit gelegen haben dürfte, die in die Bücher gesteckt wurde.

Dafür macht Andy Weir aber auch keine halben Sachen. Auch „Der Astronaut“ (im Original „Hail Mary“, so heißt das Schiff, mit dem er unterwegs ist) ist, um das Fazit vorwegzunehmen, ein unglaublich gutes Buch – wenn man Weirs Stil mag und nicht grundsätzlich von Wissenschaft abgeschreckt wird. Die Geschichte beginnt ganz plötzlich: Ein Mann wacht auf. Er weiß nichts mehr, nicht wer er ist, nicht wo er ist. Er erkennt nur, dass er in einer steril und technisch anmutenden Umgebung zu Bewusstsein gekommen ist und unheimliche Roboterarme sich darum bemühen, ihn wieder ruhigzustellen, während ihn eine künstliche Stimme beharrlich mit komischen Fragen bombardiert. Ein Albtraum!

Langsam, ganz langsam, beginnt er seine Umgebung zu erkunden, und mit dieser Tätigkeit blitzen Erinnerungen auf. Diese Erinnerungen – ein cleverer Kunstgriff des Autors – werden zu Rückblenden und die Handlung teilt sich. Auf der einen Seite befinden wir uns im Weltraum bei Ryland Grace (den Namen erfahren wir recht bald), der auf dem Weg ins Tau-Ceti-System ist, um eine Methode zur Rettung der Menschheit zu finden, auf der anderen Seite sind wir auf der Erde, auf der sich eine Katastrophe anbahnt. Denn die Sonne ist von Parasiten befallen, sogenannten Astrophagen, die in unfassbarer Menge die Energie des Himmelskörpers absaugen, um sich dann in der Venusatmosphäre fortzupflanzen. Die Bedrohung geht dabei nicht so weit, dass die ganze Sonne erlöschen würde, aber ihr Verlust an Strahlkraft würde ausreichen, um die Erde in eine neue Eiszeit zu stürzen und Milliarden Menschen zu töten. Das darf nicht passieren! (Fun Fact: Ich hatte da mal eine ganz ähnliche Idee – mit völlig anderer Auflösung allerdings.)

Bei Nachforschungen wird entdeckt, dass zahlreiche Sterne der Umgebung ebenfalls unter Leuchtkraftschwund leiden, bloß Tau Ceti scheint ausgenommen zu sein. Warum? Das wollen die Anführer der Menschheit wissen. Und so wird die ehrgeizigste Weltraummission in Angriff genommen, die je existierte. Und Ryland Grace, eigentlich ein Highschool-Lehrer, gerät mitten ins Geschehen (weil er im Rahmen einer früheren Wissenschaftskarriere mal durch einen kontroversen Artikel zu außerirdischem Leben aufgefallen war, der ihn in den Augen mancher plötzlich zum perfekten Experten – und entbehrlichen Versuchskaninchen – macht.)

Zugegeben, das mag in dieser Verkürzung nun etwas wie 08/15-SF klingen. Nichts, was nicht schon dagewesen wäre. Der Unterschied zu vielen anderen Werken ist hier jedoch, dass sich Weir absolut in das Thema hineinkniet. Der grundsätzliche Plot ist bei ihm gar nicht so spektakulär. Ihn interessiert vielmehr die Frage, wie man Dinge ganz konkret lösen müsste, damit eine solche Herausforderung zu bewältigen wäre. Da werden Astronomie, Stellarphysik, Chemie und Biologie zusammengeworfen, und man staunt manchmal nicht nur, wie umfangreich gebildet so ein durchschnittlicher Highschool-Lehrer ist, sondern auch, wie viel sich der Autor an Wissen angeeignet hat, damit sein Roman eben eine Wischi-Waschi-Space-Opera ist, sondern durch und durch realitätsnah wirkt.

Damit das Ganze keine staubtrockene Angelegenheit wird, hat Weir – einmal mehr, wir kennen das auch von seinem „Marsianer“ Mark Watney – seinem Protagonisten Ryland Grace eine angenehm sarkastische und popkulturell geprägte Wesensart auf den Leib geschrieben. Darum plaudert Grace, sowohl in seiner Erinnerung als auch vor Ort im All, meist locker flockig vor sich hin. Er macht dumme Scherze, haut Popkultur-Zitate raus, gerät auch mal in Panik, hat Angst, bemitleidet sich. Er ist einfach ein Mensch, wenngleich bei allem Selbstzweifel immer noch ein erstaunlich kompetenter Mensch, aber ansonsten wäre er wohl auch kaum ausgewählt worden, diesen Flug mit zu unternehmen. Jedenfalls liest sich „mit seiner Stimme“ selbst „Wissenschaftskram“ so kurzweilig, dass man einfach immer weiterschmökern möchte.

Ich hadere an dieser Stelle etwas mit mir. Denn der Roman nimmt etwa nach dem ersten Drittel eine weitere unerwartete Wendung. Eigentlich würde ich gern darüber reden, denn diese Wendung wird ein ganz elementarer Teil der folgenden Geschichte. Aber ich will auch nicht spoilern. Dazu ist die Überraschung zu gut. Also bleibe ich lieber vage. Ich gestehe: Ich war im ersten Moment des Lesens etwas skeptisch und habe mich gefragt, ob das nicht eben die Story ruiniert hat. Aber Hut ab vor Weir! Er bleibt seiner Linie treu. Maximale Realismustreue – und obwohl wir es auch hier mit einer eher gewöhnlichen Standardsituation zu tun haben, wird das Ganze durch diesen Ansatz frisch und neu und interessant. Und es verleiht dem Roman eine Würze, die man vermutlich schmerzlich vermisst hätte, wenn sie nicht dagewesen wäre.

Wenn man dem Roman etwas vorwerfen möchte, dann sein häufiges Springen in der Zeit. Mal vergehen nur Minuten von Szene zu Szene, dann auch mal Tage oder gar Wochen. Weir bewegt sich mitunter geradezu episodisch von einem wichtigen Moment zum nächsten, vor allem bei der Entwicklung der „Hail Mary“ auf der Erde. Das ergibt natürlich Sinn, niemand will den langweiligen Alltag zwischen den spannenden Ereignissen lesen, aber es sorgt auch dafür, dass der Ablauf mitunter holprig anmutet. Das verstärkt sich gegen Ende des Romans, wo Weir den Abschluss sucht, aber noch zwei, drei Haken extra schlagen wollte oder musste, um zu einem ganz bestimmten (zugegeben hübschen) Schlusspunkt zu gelangen. Es sorgt zudem auch dafür, dass eigentlich fast alle Figuren blass bleiben. Ryland Grace beherrscht sehr das Geschehen, wahrscheinlich ein für Ich-Perspektiven typisches Problem. Selbst für seine toten Crewkameraden, die dem Vernehmen nach seine Freunde gewesen sein sollen, empfindet man daher kaum etwas. Sie treten nur in Grundzügen gezeichnet auf wenigen Seiten des Romans auf.

Fazit: Von einem leichten, erzählerischen Schleudern im Schlussteil und eher blassen Figuren rings um den Protagonisten abgesehen, hat Andy Weir mit „Der Astronaut“ erneut einen unglaublich guten Roman vorgelegt. Man staunt als Leser über die wissenschaftliche Recherche, man folgt voller Neugierde dem Helden-wider-Willen Ryland Grace bei seinen Entdeckungen, man schmunzelt, hofft, bangt und will Dank des lockeren Stils immer weiterlesen – und das, obwohl die Handlung an sich eher ruhig erzählt ist und frei von effektheischerischer Action ist. Das ist schon große Science-Fiction-Kunst. Eine Lese-Empfehlung für alle, die gut durchdachte und, ja, auch herzerwärmende Unterhaltung mögen.

Der Astronaut
Science-Fiction-Roman
Andy Weir
Heyne 2023
ISBN: 978-3-453-32283-7
560 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: 12,00 EUR

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