Degenesis: Rebirth Edition

Das Endzeit-Rollenspiel „Degenesis“ hat damals viel Aufmerksamkeit erregt, als es erstmalig als wunderschönes, dickes Hardcover zu kaufen war. Das Grundregelwerk verkaufte sich hervorragend (für Rollenspielverhältnisse). Es folgten zwei Quellenbücher und ein Abenteuer und dann war Ruhe. Letztes Jahr zur Spielemesse in Essen überraschte die „Degenesis“-Crew die Rollenspieler mit einer neuen, größeren und in allen Belangen aufwändigeren Version des Spiels.

von amel

Und dabei war die erste gedruckte Auflage schon dick und schwer, mit extrem aufwändigem Layout und einer herausragenden Bebilderung. Da setzt die „Degenesis“-Crew aber noch einen drauf. Die neue „Rebirth Edition“ wird in einem Schuber mit zwei Büchern ausgeliefert. Zusammen sind es 704 Seiten, die auf den Leser warten. Der Schuber ist dicker und stabiler als jeder Schuber, den ich bisher gesehen habe. Die Bücher sind vollfarbig. Es wurden weitere Künstler herangeholt – alles Könner ihrer Zunft –, die eine fantastische Bilderlandschaft zauberten, an der sich alle kommenden Produktionen messen müssen. Nur sollte sich niemand an dem einen oder anderen entblößten Geschlechtsteil stören, wie in allem anderen, ist „Degenesis“ auch hier sehr freizügig. Das Layout ist wieder sehr prächtig, aber eleganter und übersichtlicher. Cover und Schuber sind komplett in glänzendem Weiß, das nur vom Schriftzug unterbrochen wird. Überhaupt wurde mehr Wert auf Ordnung gelegt. Der Charakterbogen ist aufgeräumter, die Überschriften dienen eher der Übersicht als der Kunst und der Stil ist weniger schmutzig – aber immer noch schmutzig genug, um die angestrebte Stimmung zu transportieren.

„Degenesis“ will Grenzen sprengen, will pompös und auffällig sein. Das spiegelte sich in der ersten Druckauflage auch im Schreibstil wider, der ebenso künstlerisch gehalten war, wie die grafische Gestaltung. Das war damals auch der Hauptkritikpunkt am Spiel. Zwischen all den Vignetten und subjektiv geschriebenen Erklärungen ging die Information verloren. Gesuchte Regeln wurden nicht wiedergefunden. Abenteuer, die im gleichen Stil geschrieben waren und etwa in der „Mephisto“ erschienen, wurden teilweise überhaupt nicht verstanden. Der Stil sorgte für ein ganz besonderes Leseerlebnis, half aber nicht im Spiel. Die „Rebirth-Edition“ ist dankenswerterweise auch hier aufgeräumter. Der Stil ist immer noch vorhanden (alles andere wäre auch eine Schande), aber Autor Christian Günther legt dieses Mal mehr Wert auf Ordnung. Zum Glück weiß er, was er tut und informiert und unterhält den Leser in gleichem Maße, baut Stimmungen auf und erklärt, wie die Welt funktioniert.

Neben all der Bildergewalt und aufwändigen Gestaltung ist es aber die Welt, die die Faszination von „Degenesis“ ausmacht. Günther legt Wert darauf, dass es um den Aufbau nach der Katastrophe geht, nicht um die letzten Stündlein der Menschheit. Arbeit zahlt sich also aus und es besteht Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Er benutzt nicht den Begriff „Endzeit“, sondern „Postapokalypse“, wenn er „Degenesis“ beschreibt. Die Welt ging vor ein paar Hundert Jahren kaputt und strampelt seitdem kräftig mit den Beinen, um sich wieder aufzurappeln. Der Untergang liegt in unserer Zukunft. Die Technik war weiter entwickelt, das weltweite Computersystem weiter ausgebaut. Der Mensch hatte einen „transhumanistischen“ Stand erreicht. Der Untergang kam in Form vom Meteoriten, die nicht nur unglaubliche Zerstörungskraft, sondern auch einen außerirdischen Pilz mit sich brachten, der den Genpool der Menschen ganz gehörig durcheinanderschüttelte.

Geht man ein paar Schritte zurück und betrachtet „Degenesis“ aus der Entfernung, bietet es eigentlich ziemlichen Standard im Endzeit-/Postapokalypse-Bereich. Die Menschheit sucht alte Artefakte, um an die glorreichen Zeiten anzuknüpfen. Es haben sich verschiedene Gruppierungen oder Stämme gebildet, die sich mehr oder weniger gut leiden können. Manchen Gegenden (Afrika) geht es besser als anderen (Europa). Und – kaum zu fassen – Leute mutieren, verändern sich durch den Primer genannten außerirdischen Pilz und können zu sogenannten Psychonauten werden.

Wie aber alles bei „Degenesis“ ist es auch hier etwas anders, als es scheint. Die Themen sind altbekannt, das stimmt, doch die Umsetzung ist anders. Genau das ist es auch, was „Degenesis“ meiner Meinung nach auszeichnet. Die Veränderung – die Welt – wird mystifiziert. Der Name „Rebirth Edition“ deutet nicht nur an, dass viele das Spiel für tot gehalten haben, sondern gibt auch gleich im Namen wider, worum es geht. In einer einleitenden Kurzgeschichte fällt das Wort „Wiedergeburt“ im Zusammenhang mit der Umwandlung durch den Pilz. Hier mutieren nicht einfach Leute, sie werden auf grundlegene, fast schon mystische Art verändert. Die „Stämme“ der Welt, die auch gleich eine Art Charakterklasse bilden, werden „Kulte“ genannt. Die Überreste des Computersystems bekommen als „Stream“ eine Persönlichkeit. Und der Gegner der Menschen ist nicht einfach ein Pilz, er ist der „Primer“.

All das wird detailreich beschrieben. Die beiden Bücher liefern Unmengen an Informationen. Zum Glück macht es, wie gesagt, Spaß sie zu lesen. Eine durchdachte und über viele Jahre entwickelte Welt entfaltet sich vor dem Leser und lädt zum Spielen ein.

Um das Spiel zu verbessern – oder wie manche Kritiker der ersten Druckauflage vielleicht sagen würden: es überhaupt erst zu ermöglichen – liefert das zweite Buch ausführliche Spielregeln. Sie wurden für die Neuauflage komplett neu gestaltet. Der Komplexitätsgrad dürfte irgendwo in der Nähe des „World of Darkness“-Regelwerks liegen und hat auch sonst ein paar Ähnlichkeiten damit. Es gibt die gewohnten Attribute und Fertigkeiten. Für eine Probe addiert man eine Fertigkeit und ein Attribut und würfelt einen entsprechenden Pool an W6 mit einem Mindestwurf von 4 und zählt die Erfolge. Sechsen bilden eine Besonderheit, machen einen Erfolg cooler oder effektiver. Sie erhöhen zum Beispiel im Kampf den Schaden.

Die Charaktererschaffung fußt auf einem Baukastenprinzip. Der Spieler wählt eine Kultur, ein Konzept und einen Kult – jeweils aus detailreichen Listen. Damit ist schon viel festgelegt, die Möglichkeit auf besondere Fertigkeiten, Ausrüstung, gesellschaftlichen Stand und Kontakte gegeben und die Höchstwerte für einige Zahlenwerte abgesteckt. Dann werden noch ein paar Punkte verteilt und das war es. Im Endeffekt wählt der Spieler aus einer Unzahl von Listen und baut sich so die Figur seiner (Alb-)Träume. Hippe Indie-Mechaniken sucht man vergebens, ich persönlich finde das aber gut. „Degenesis“ fußt im Design der 90er und da gehört es auch hin. Zu einer derartigen Welt gehört ein funktionierendes klassisches System und das liefern die Regeln. Man braucht kein Studium oder Computerprogramm, um eine Figur zu erschaffen, aber es gibt genug Crunch, um alle Spieler auch auf dieser Ebene zu beschäftigen.

Man benötigt zwar kein Programm zur Charaktererschaffung, das hat die Macher aber nicht davon abgehalten, trotzdem eines zu liefern. Unter www.degenesis.de findet man nicht nur ein paar Bilder, wunderschöne Karten und ein Beispielkapitel, sondern auch einen Online-Charakter-Generator. Natürlich findet man dort auch den Shop, um „Degensis“ zu bestellen. Es gibt insgesamt drei Versionen: Die normale Premium Edition für 99 Euro mit den beiden Büchern im Schuber. Der Preis wirkt vielleicht zunächst etwas hoch, liegt jedoch im Schnitt, wenn man bedenkt, dass es zwei Vollfarbbücher in hoher Qualität sind. Zusätzlich gibt es zwei limitierte Versionen. Die Limited Edition kostet 149 Euro und enthält neben den nummerierten und signierten Büchern einen Sichtschirm, eine Posterkarte und einen Satz mit hübschen Kult-Karten. Der Karten sind etwas größer als Postkarten. Der Sichtschutz ist aus der gleichen Pappe gemacht, also weit dünner als die meisten heutigen Sichtschirme. Auch er ist gut gestaltet und mir persönlich reicht die Dicke aus. Nur das Hochkantformat finde ich unpraktisch. Die Posterkarte ist super. Ob einem das 50 Euro Wert ist, muss man wohl selbst entscheiden. Die Artist Edition kostet unglaubliche 499 Euro, ist auf 100 Stück limitiert und enthält neben den Büchern eine handgearbeitete „Deluxe-Box“, einen Kunstdruck von Gerald Parel und ein Originalwerk von Marko Djurdjevic.

Fazit: „Degenesis“ ragt in so vielen Punkten aus der Rollenspielmasse heraus, dass ich noch seitenweise weiterschreiben könnte. Das neue Regelsystem gefällt mir gut. Der Unterhaltungswert liegt weit über dem Durchschnitt. Die Welt mit all ihrem Mystizismus und ihrer Pathetik sollte vielen Rollenspielern gefallen. Die Bücher setzen Maßstäbe in der Aufmachung. Außerdem sind die Texte aufgeräumter und übersichtlicher als in der ersten Druckausgabe, was den Spielwert massiv erhöht. „Degenesis: Rebirth Edition“ ist eine Bereicherung für jede Rollenspielsammlung.


Degenesis: Rebirth Edition
Grundregelwerk
Christian Günther, Marko Djurdjevic u. a.
Sixmorevodka 2014
ISBN: 978-3000463365
704 S., zwei Hardcover im Schuber, deutsch
Preis: EUR 99,00

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