Das Nibelungenlied

Das Nibelungenlied, das große mittelhochdeutsche Heldenepos, hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Bearbeitungen erfahren. Man begegnet seinen Figuren in der Oper, in Filmen und Romanen. Der Hörverlag offeriert den Ursprungstext, besser gesagt eine Fassung des vermeintlichen Ursprungstextes, als Live-Mitschnitt einer Lesung des erfahrenen Interpreten Rolf Boysen.

von Simon Ofenloch

 

Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied ist aus zahlreichen bruchstückhaften Handschriften bekannt. Um 1200 wurde es von einem anonymen Autor irgendwo zwischen Passau und Wien aus verschiedenen germanischen Heldensagen zusammengeschrieben. Es ist die Geschichte von Siegfried und seinem Kampf mit dem Drachen, von seiner tragischen Liebesbeziehung zu Kriemhild und deren verhängnisvollen Auswirkungen. Es ist eine Geschichte über Liebe, Eifersucht, Machtgier und Rache. Eine Sammlung menschlicher Schwächen und Verfehlungen. Eine Chronik weltlicher Kämpfe, ergänzt um Zugaben aus dem Reich der Märchen und Legenden. Drachen und Zwerge sind integrale Bestandteile der Handlung. Ebenso schicksalssprechende Nornen. Und Tarnkappen und mächtige Wunderwaffen hinterfragt auch niemand. Das Nibelungenlied ist aus vielen Erzählsträngen gewoben. Eine zentrale Rolle spielt der Nibelungenhort, ein fluchbeladener Goldschatz, den Siegfried einst besaß und den der schurkische Hagen von Tronje ihm und Kriemhild raubte.

Das deutsche Heldenepos besteht aus vierzeiligen Strophen mit paarweisen Endreimen. Es umfasst etwas mehr oder weniger als 2.400 Strophen, abhängig von der Handschrift, auf die man sich beruft, und gliedert sich insgesamt in zwei Teile. In den ersten neunzehn als so genannte „Aventüren“ bezeichneten Abschnitten geht es primär um die Erlebnisse Siegfrieds bis zu seiner Ermordung. Die Aventüren 19 bis 39 handeln von Kriemhilds Rache an den Drahtziehern dieser schändlichen Tat.

Zum einfacheren Verständnis des ursprünglichen Textes und zum verstärkten öffentlichen Interesse an den alten Schriften trug Karl Simrock 1827 bei, als er eine Übersetzung aus dem Mittelhochdeutschen anfertigte. Der studierte Jurist und Germanist war zunächst im preußischen Staatsdienst tätig und später Professor für deutsche Sprache und Literatur in Bonn. Fasziniert von der mittelhochdeutschen Epen- und Märchenliteratur bemühte er sich um zugängliche Übersetzungen und verlegerische Herausgaben. Bei der Bearbeitung des Nibelungenliedes war es Simrock wichtig, die ursprüngliche Strophenform wiederzugeben. Es gelang ihm, im neuhochdeutschen Text die eigentümliche Melodie der Vorlage zu bewahren.

Für heutige Ohren besteht allerdings die Gefahr, dass die Übertragung wegen der einfachen Reimform und der immer gleichen, eintönigen metrische Gestaltung mitunter wie die Büttenrede eines Fastnachters klingt. Diesen Vorwurf muss sich auch Rolf Boysen gefallen lassen, der langjährige Theaterschauspieler, der im Oktober 2004 in der Allerheiligen Hofkirche der Münchner Residenz eine mehrtägige Lesung des Nibelungenliedes nach Karl Simrock abhielt, die der Hörverlag als gekürzte Live-Aufnahme auf zehn CDs gebannt hat.

Stimmlich überzeugt Rolf Boysen. Seine Aussprache ist klar und deutlich, ohne ein getragenes Timbre entbehren zu müssen, sein Tempo wohl gewählt. Man kann ihm gut zuhören. Da stören auch die wenigen Nebengeräusche nicht, die sich beim Mitschnitt einer Lesung vor Publikum naturgemäß nicht vermeiden lassen.

In den fünf CD-Hüllen, die jeweils zwei Hörscheiben fassen, finden sich interessante Zusatzinformationen zum Nibelungenlied, darunter eine Abhandlung des renommierten Skandinavisten und Experten für altnordische und germanistische Philologie, Felix Genzmer.

Fazit: Diese CD-Box ist für Puristen sicherlich die erste Wahl. Und damit wahrscheinlich nicht die schlechteste. Näher kommt man dem Ursprungstext nur im Museum. Und dort muss man ihn selber lesen.


Das Nibelungenlied
Gekürzte Lesung nach der Übertragung aus dem Mittelhochdeutschen von Karl Simrock
Rolf Boysen
Hörverlag 2008
ISBN: 978-3-89940-510-1
10 CDs, ca. 692 min., deutsch
Preis: EUR 49,95

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