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Heredium

Im Rollenspiel „Heredium“ ist im 23. Jahrhundert die Zivilisation, wie wir sie kennen, durch selbst beschworene Katastrophen ausgelöscht worden, und die Überlebenden tragen schwer an den Vermächtnissen, die ihnen geblieben sind. Morbide Endzeitstimmung ist allerdings nicht angesagt. Es gilt nicht nur, ein schweres Erbe anzutreten, sondern der Menschheit einen neuen Platz in der lebensfeindlichen Umwelt zu erschaffen. Also das Plasmagewehr geschultert und los geht’s…

von Andreas Loos

Im Jahre 2190 unserer Zeitrechnung wird der Mond durch eine Explosion gesprengt. Als Folge dieser Katastrophe gerät die Welt, bereits durch etliche Aktionen des Menschen in ihrem ökologischen Gleichgewicht gestört, endgültig aus den Fugen. Die Zivilisation, wie wir sie kennen, bricht zusammen, und Milliarden Menschen sterben. Zehn Jahre später haben sich die wenigen Überlebenden neu organisiert.

Fünf neue Zivilisationen versuchen mit einem jeweils anderen kulturellen und technologischen Konzept, sich die Erde erneut Untertan zu machen. Das Vermächtnis der untergegangenen Zivilisation wiegt schwer auf den Schultern ihrer Nachfolger, trotzdem oder gerade deshalb herrschte ein positiver Unterton. Aufbruchsstimmung ist angesagt. Es ist Zeit, das Alte hinter sich zu lassen und nach vorne zu blicken.

Da sind beispielsweise die Bewohner der Kuppelstadt Temora, welche den asiatischen Raum beherrscht. Die Stadt selbst blieb von den Auswirkungen der Katastrophe verschont, und viele der technischen Wunder von vor der Katastrophe können hier noch hergestellt werden. Die Hezekieliten, die vorwiegend in Afrika beheimatet sind, schlagen die umgekehrte Richtung ein. Technik wird von ihnen verachtet, und die dortige Bevölkerung führt ein einfaches Leben. Ihr aus dem Meer stammender Prophet Hezekiel verleiht ihnen besondere Kräfte, um ihre lebensfeindliche Umwelt zu meistern. Wie wohl die technophoben Anhänger des Propheten reagieren würden, wenn sie wüssten, dass die Gaben des Propheten auf Nanitentechnologie basieren?

Mutationen sind bei „Heredium“ keine Seltenheit, und so sind sie auch an der Spezies Homo Sapiens nicht spurlos vorübergegangen. Allgemein ist die Fauna im Vergleich zum Menschen erheblich stärker und intelligenter geworden. Und einige Menschen haben ebenfalls wundersame Kräfte erlangt. Solche, die mit Mutationen geboren werden, werden Debellatoren genannt. Psi ist unter ihnen weit verbreitet. Vor der Katastrophe wurden die Debellatoren wegen ihrer Fähigkeiten verfolgt und gemieden, doch nun haben sich diese neuen „Übermenschen“ zu den Herren Nordamerikas aufgeschwungen.

Mutationen ganz anderer Art findet man bei den Piraten der Raging Bulls, welche die Reste des australischen Kontinents als ihre hauptsächliche Basis nutzen. Unschöne Mutationen kann man bei dem Abschaum der Meere finden, manche davon sind sogar nützlich. Mehr oder weniger beschaulich geht es hingegen im alten Europa zu. Die Reste der großen christlichen Kirchen und der verschiedenen Militärs haben zusammen mit einigen Geschäftsleuten, den so genannten Postindustriellen, die Nordallianz aus der Taufe gehoben. Konservatives Denken herrscht hier vor, und unter dem Mantel der vereinigten Hegemonialkirche und mit vor Waffen starrenden Allianzgardisten macht man sich daran, heute Europa wieder zu beherrschen und sich dann morgen um den Rest der Welt zu kümmern.

Die Natur in „Heredium“ wirft allerdings allen Völkern Steine in den Weg. Die Nordallianz ist zum Beispiel ständig damit beschäftigt, die Ausbreitung mutierter Wälder zu verhindern, um nicht von diesen erdrückt zu werden. Außerdem geht hier auch die Angst vor Terroristen um, welche sich in Anlehnung an eine Terroristengruppe des 20. Jahrhunderts NRAF nennen. Neben den fünf „Zivilisationen“ gibt es noch eine Menge Splittergruppen, von denen einige wirklich total abgedreht sind, die das Bild abrunden und den Spielern jede Menge interessante und potenziell tödliche Begegnungen bescheren.

Jede der fünf Zivilisationen verfügt außerdem über einzigartige Sonderfähigkeiten, wie Ektoware, eine Art Fusion zwischen Mensch und Maschine, Stimulanzien sowie die bereits erwähnten Mutationen und PSI- oder Nanitenkräfte.

Bei der Charaktererschaffung werden Punkte verteilt, die Anzahl der Punkte, welche die Spieler verteilen können, sollte so gewählt werden, dass ein Gleichgewicht zwischen den Charakteren besteht. Der Spieler bestimmt die Zivilisation seines Charakters und wählt eine Berufung aus, die dem Charakter eine Rolle in seiner Umwelt zuweist, samt bestimmter Boni, Startausrüstung und Sonderfähigkeiten, die diese mit sich bringt. Spezielle Persönlichkeitsaspekte, sowie Vor- und Nachteile sorgen dafür, dass jeder Charakter zu Spielbeginn über eine ausgefeilte Persönlichkeit verfügt. Durch die festgelegten Rollen (Soldat, Händler, Technkier usw.), ist eine rasche Erschaffung möglich, durch das Punktesystem können die einzelnen Fertigkeiten genauso gut individuell dem eigenen Konzept angepasst werden.

Regeltechnisch wird in „Heredium“ das Rad nicht neu erfunden, dafür gibt es schon zu viele diverse Systeme auf dem Markt. Was aber bei dem System positiv auffällt, ist die niedrige Komplexität, weshalb es binnen kürzester Zeit erlernt werden kann.

Sechs primäre Attribute bilden das Grundgerüst eines jeden Charakters. Die Werte bewegen sich dabei zwischen 1 und 4, ein Wert von 2 repräsentiert den menschlichen Durchschnitt. Erlernte Fähigkeiten beziehungsweise erlerntes Wissen werden durch Fertigkeiten dargestellt. Eine Skala von 1 bis 16 legt fest, wie gut ein Charakter eine Fertigkeit beherrscht. Um eine Aktion egal welcher Art durchzuführen würfelt der Spieler mit so vielen sechsseitigen Würfeln wie er in dem für den Wurf relevanten Attribut Punkte hat. Ein Spieler mit einem Wert von 2 hätte also 2W6 zur Verfügung. Die Summe des Wurfes wird addiert und der Wert der entsprechenden Fertigkeit wird ebenfalls hinzugerechnet. Ist das Ergebnis gleich oder größer als der vorher vom Spielleiter bestimmte Zielwert, so ist die Aktion erfolgreich. Ansonsten liegt ein Misserfolg vor.

Zahlreiche Modifikationen, wie um Beispiel optionale Kampfmanöver, sorgen dafür, dass die Regeln dem Bedarf der spielenden Gruppen leicht angepasst werden können. Etwas, was ich persönlich vermisst habe, waren Regeln zum Fahrzeugkampf. Fahrzeuge besitzen in „Heredium“ zwar eher Seltenheitswert, aber dennoch kommen diese häufig genug vor, um im Verlauf des Spiels von Bedeutung zu sein. Das ist allerdings auch gleichzeitig mein einziger wirklicher großer Kritikpunkt. Ansonsten hat das Lektorat ein klein wenig an Sorgfalt missen lassen.

Das Kapitel über Ausrüstung und Waffen bietet einen Überblick auf die Technik des 23. Jahrhunderts. Neben Projektilwaffen, Lasern, Plasmagewehren und Protonenwerfern, findet man natürlich auch primitivere Waffen. Außerdem werden Ausrüstungsgegenstände und Hightechspielzeug näher beschrieben: einige innovative Rüstungen, Überlebensausrüstung, Informationstechnik, verschiedene Drogen und ein paar Beispielfahrzeuge. Die Palette der verfügbaren Technologie erinnert ein wenig an das Computerrollenspiel „Fallout“, obgleich ich mich nicht erinnern kann, dort Protonenwaffen gesehen zu haben.

Das Buch selbst ist stabil gebunden, und besticht mit schnörkelloser Eleganz. Ein paar stimmige Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die alle aus der gleichen Feder stammen, geben „Heredium“ einen optisch gelungenen Rahmen. Zusätzlich sind den einzelnen Kapiteln einige schöne und passende Aphorismen historischer Persönlichkeiten vorangestellt. Von Goethe über Brecht bis hin zu Albert Einstein und Sokrates werden eine Menge tiefsinniger Zitate geboten. Um es mit Heine zu sagen: „So ein paar grundgelehrte Zitate zieren den ganzen Menschen.“ Und was für den Homo Sapiens gilt, trifft auch auf „Heredium“ zu.

Zudem werden auch immer wieder unterhaltsame Texte eingestreut, um denn Hintergrund lebendig werden zu lassen. Gerade bei diesen Texten offenbart sich auch, wie viel persönliches Herzblut in dieses Rollenspiel geflossen ist.

Die Support Site www.heredium-rpg.de verfügt über einige nützliche Inhalte, vor allem über ein interaktives Charakterdatenblatt, das einem die Berechnung von Schutzwerten für Rüstungen und für Fertigkeitswürfe abnimmt.

Fazit: Ich war schon immer ein Fan von postapokalyptischen oder Dark-Future-Rollenspielen. „Heredium“ nimmt unter diesen eine herausragende Rolle ein, da sich hier ein leicht lernbares und unkompliziertes Regelsystem und ein ausgefeilter und gut durchdachter Hintergrund zu einem durchweg gelungenen Rollenspiel vermischen. Ich kann dabei dann auch über kleinere Fauxpas im Bezug auf das Lektorat und das Fehlen von Regeln für Fahrzeugkampf guten Gewissens hinwegsehen und das Buch uneingeschränkt empfehlen.

Heredium Grundregelwerk Grundregelwerk Andreas Schnell 13Mann-Verlag 2008 ISBN: 978-3981171891 419 S., Hardcover, deutsch Preis: EUR 39,95 bei amazon.de bestellen